28.04.2023
Gastkommentar von Georg Krause im trend. Edition+ am 28.4.2023
Wenn Europa nicht komplett ins digitale Hintertreffen geraten will, braucht es einen eigenen Weg mit einem menschenzentrierten Ansatz.
Der weltweite Digitalisierungswettlauf ist in vollem Gange. Und wir sind hinten. Besser gesagt: Die EU ist es. Die USA und China sprinten vorneweg. Gab es 2010 zumindest noch drei europäische Unternehmen in den Top Ten der Unternehmen nach Marktkapitalisierung weltweit, kommen die neuen Größen der digitalen Welt fast nur noch aus den USA, einige wenige aus China. Und der Abstand wird immer größer.
Klar ist: Wir müssen laufen. Ob wir wollen oder nicht. Digitalisierung ist die Zukunft. Für die EU, für Österreich, für unsere Unternehmen. Digitale Technologien verändern die Gesellschaft fundamental, haben innerhalb weniger Jahre explosionsartig die Grenzen des Wissens und die Grenzen des Machbaren gleichermaßen verschoben. Der aktuelle Hype um ChatGPT scheint daher nur das erneute Brodeln des Digitalisierungsvulkans, der wieder einmal kurz vor einem Ausbruch steht.
Digitalisierung aber (nur) um der Digitalisierung willen und um jeden Preis ist der falsche Weg. Was sich Europa und wir uns alle verstärkt stellen sollten, ist die Sinnfrage. Ja, durch das Festhalten Europas an seinen Werten, dem Schutz der Bürger und den demokratischen Grundprinzipien konnte die Geschwindigkeit, die das unternehmenszentrierte USA und das staatszentrierte China an den Tag gelegt haben, in dieser ersten Phase nicht mitgehalten werden. Das Ziel des Digitalisierungsrennens aber ist noch nicht in Sicht. Könnte sich also diese anfängliche Schwäche heute als Stärke der Zukunft für Europa entpuppen, um die Lücke nach vorne zu schließen?
Europäische Werte waren es, die uns in diese Lage gebracht haben und ich bin überzeugt, dass es europäische Werte sein werden, die uns wieder nach vorne bringen werden. Wir müssen Technologien nach menschlichen Werten und Bedürfnissen gestalten. Wir brauchen einen Ansatz, der Mensch und Technologie gemeinsam denkt, Menschzentriert, humanistisch. Wir brauchen digitalen Humanismus in Europa. Und wir brauchen ihn jetzt stärker denn je.
Der Wille, diesen Weg zu gehen, ist da. So zeigt sich die Europäische Kommission entschlossen, indem sie digitale Souveränität ausbaut und eigene Standards setzt. Wie das gehen kann, zeigen erste europäische Samen, die mitvielversprechenden Projekten wieder Digital Identity for all Europeans oder GAIA-X gesät wurden. Diese Projekte folgen alle den gleichen Grundprinzipien: Selbstbestimmung über Daten, sichere Vernetzung, anonymisierter Datenaustausch und uneingeschränkter Schutz der menschlichen Grundrechte.
Leider sind diese Projekte noch vergleichsweise kleine Pflänzchen. Was fehlt, ist der Mut für wirklich große, europäische Sprünge. Auch wenn es schwer erscheint: Es gilt, nationalstaatliche Egoismen beiseitezulegen und mit geballter Kraft gemeinsam an diesem europäischen Digitalisierungsweg zu arbeiten. Schließlich geht es um nichts weniger, als den Status als attraktive Wirtschaftsregion für Investitionen, Start-ups und global agierende Unternehmen zurückzuerlangen und damit Wohlstand zu schaffen.
Digitaler Humanismus kann zu einem echten Alleinstellungsmerkmal Europas in der digitalen Welt werden. Gerade nach den ersten Jahren des rein technologie- und datengetriebenen Goldgräberrauschs und den Folgen unserer geopolitischen Situation Stichwort Ukraine/Russland-Krise sind Dinge wie Souveränität und Privatsphäre wieder ernst zu nehmende gesellschaftliche Werte geworden. Firmen und Länder suchen nachhaltige Konzepte, mit denen Ausgewogenheit zwischen technisch Machbarem und moralisch, ethisch Wünschenswertem hergestellt wird.
"Wir müssen Technologien nach menschlichen Werten und Bedürfnissen formen, anstatt nur zuzulassen, dass Technologien Menschen formen", heißt es im Wiener Manifest des digitalen Humanismus, das unter Führung der TU Wien bereits 2019 formuliert wurde.
Dem kann ich nur zustimmen. Wenn wir diesem Ansatz in den nächsten Jahren klug, gezielt und gemeinsam mit voller Kraft folgen, kann Europa nicht nur ein weltweit erstrebenswertes Digitalisierungsmodell schaffen, das selbst Nachahmer sucht, sondern darüber hinaus seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern und deutlich Boden gutmachen auf die Spitzengruppe im Digitalisierungswettlauf.