03.04.2023
Expertenkommentar von Dr. Georg Krause, CEO msg Plaut
Schon oft gab es in der Menschheitsgeschichte neue Erfindungen, die dazu geführt haben, dass bestehende Prozesse verbessert, neue Materialien oder Medikamente entwickelt und neue Formen der Energienutzung umgesetzt werden konnten.
Was heute im Digitalisierungszeitalter anders ist: Noch nie gab es ein solches geballtes Zusammentreffen neuer Technologien. Software und Hardware und insbesondere die Kombination daraus – Schlagworte wie Artificial Intelligence, Cyber Physical Systems oder globale Vernetzung sind hier zu nennen – haben innerhalb weniger Jahre fast explosionsartig die Grenzen des Wissens und die Grenzen des Machbaren gleichermaßen verschoben. Und sie werden es auch in Zukunft tun, noch dazu mit zunehmender Geschwindigkeit.
“The pace of change has never been this fast, yet it will never be this slow again” hat es der kanadische Präsident Trudeau 2018 beim World Economic Forum in Davos sehr treffend auf den Punkt gebracht.
Digitalisierung verändert (fast) alles
Digitalisierung bietet nicht nur Verbesserungspotenzial für Bestehendes, sondern völlig neuartige Möglichkeiten und Wege, wie Wirtschaft, Verwaltung, Bildung, Medizin & Co. in Zukunft funktionieren werden. Nicht die Umsetzung des schnelleren, einfacheren Prozesses macht Digitalisierung aus, sondern die komplett neue Herangehensweise, die disruptive Lösung.
So besitzt heute der größte Zimmervermieter der Welt kein einziges Hotel (Airbnb) und der größte Fahrtendienst-Anbieter kein einziges Auto (Uber). Dinge, die früher gekauft wurden, werden heute oft nur für einen gewissen Zeitraum und in einem entsprechenden Umfang gemietet, wie dies bei den meisten Softwareprodukten oder im Verkehr beim eScooter-Verleih in Städten heute üblich ist.
Dies hat unter anderem dazu geführt, dass die meisten der teuersten Unternehmen der Welt aus der Digitalbranche stammen. Sie verfolgen strikt digitale Geschäftsmodelle und haben durch Ihre Möglichkeiten zur weltweiten Skalierung oft einen Unternehmenswert, der ein Vielfaches traditioneller Unternehmen ausmacht (siehe Grafik). So erzielen diese oft Bewertungen jenseits der Billionen-Dollar-Marke, während es kein Unternehmen der traditionellen Wirtschaft je über 500 Milliarden Dollar Marktkapitalisierung geschafft.
Top 10 Unternehmen nach Marktkapitalisierung
Digitalunternehmen sind in Rot dargestellt
Europa hinkt weltweit hinterher
Die schlechte Nachricht gleich vorweg: Europa und seine Unternehmen haben die Digitalisierung verschlafen. Gab es 2010 zumindest noch drei europäische Unternehmen in den Top 10 der Unternehmen nach Marktkapitalisierung weltweit, kommen die neuen Top-Unternehmen der digitalen Welt fast nur noch aus den USA, einige wenige aus China.
Beim Blick in die Start-Up-Welt sieht es nicht anders aus. So hat sich das Forschungsinstitut CBInsights in seinem Report 2021 die weltweite Verteilung von „Unicorns“, also junge, neu gegründete Unternehmen mit mehr als 1 Mrd. Dollar Marktkapitalisierung, angeschaut. Die Betrachtung dieser Unicorns eignet sich hier sehr gut, haben diese doch in den meisten Fällen innovative, neue Geschäftsmodelle unter Nutzung der digitalen Möglichkeiten und treiben damit die Innovation und Disruption voran. Einige von ihnen werden die Uber, Alphabets und Amazons von morgen sein. Auch hier ernüchternd für Europa: Der Kontinent liegt deutlich hinter den USA und Asien zurück, Kontinentaleuropa insbesondere.
Verteilung der Unicorns
Verteilung der Unicorns (Startups mit mehr als 1 Mrd. Dollar Marktkapitalisierung) auf Regionen, CBInsights Report 2021
Und auf einen weiteren wichtigen Bereich in der digitalen Wirtschaft lohnt es sich einen Blick zu werfen: die Plattformen. Diese digitalen Marktplätze sind nicht nur der wohl wichtigste Zukunftsbereich, sondern deshalb so bedeutend, weil sie meist weltweit Kunden, Lieferanten, Dienstleister und viele weitere Stakeholder zusammenbringen. Dabei entsteht oft eine ungeheure Marktmacht mit oft monopolartigen Strukturen, wie das Beispiel Amazon zeigt. Die Sprache ist bereits von einer Plattformökonomie, da immer mehr traditionelle Vertrieb- und Kommunikationskanäle in Plattformen verlagert werden. Und leider auch hier das gleiche Bild für Europa im Vergleich mit den USA oder Asien: Der Aufholbedarf oder Rückstand – wie man auch immer die Statistiken betrachten will – ist immens.
Top-100 Plattformen der Welt
Top-100 Plattformen der Welt nach Wirtschaftsregionen
Chancen für ein digitales Österreich?
Die genannten Beispiele sind nur so etwas wie die Spitze des Eisbergs. Ob das World Digital Competitiveness Ranking 2022 von IMD und der seit vielen Jahren publizierte Network Readiness Index - Europa weist in der Digitalisierung so gut wie immer einen Rückstand gegenüber den beiden anderen mächtigen Weltregionen aus. Ist deshalb für so ein kleines Land wie Österreich der Digitalisierungs-Zug abgefahren?
Die Antwort ist nein. Denn wenn man sich Reports auf Länderebene ansieht, lässt sich erkennen, dass einige europäische Länder immer wieder in der Spitzengruppe der Digitalisierung und der digitalen Wettbewerbsfähigkeit auftauchen, auch wenn Europa insgesamt als Ganzes deutlich hinterherhinkt. Dies sind insbesondere Schweden, Dänemark, Niederlande, Finnland und als Nicht-EU-Land die Schweiz.
Innerhalb der EU gibt es seit 2014 mit dem DESI (Digital Economic and Society Index) eine jährliche Messung hinsichtlich Fortschritt und Status bei der Digitalisierung aller europäischen Länder. Dieser Index kombiniert Kennzahlen aus den Bereichen Humankapital, Konnektivität, Wirtschaft und Verwaltung.
Österreich belegt in diesem Ranking in den letzten Jahren immer einen Platz zwischen 10 und 13 und ist damit im guten Mittelfeld, meistens etwa gleichauf mit Deutschland. Die Stärke von Österreich bei der Digitalisierung liegt tendenziell in der Forschung und im Bereich der Verwaltung (Stichwort: eGovernment), während die Nutzung innovativer digitaler Technologien im Unternehmensbereich als auch im privaten Bereich gegenüber anderen Ländern nachhinkt.
Doch es gibt Lichtblicke am Ende des Digital-Tunnels. Das Potenzial für Österreich ist vor allem deshalb nicht zu unterschätzen, da der derzeitige Anteil der IKT an der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes (BIP) nur knapp über 3% liegt, während Länder wie Schweden oder Großbritannien deutlich über 5% Anteil haben. Das bedeutet, dass hier ein unmittelbares Wachstumspotenzial von 2% des BIP besteht. Und zusätzlich kommt ein indirekter Effekt hinzu, da jeder IT-Arbeitsplatz statistisch gesehen auch noch 1 bis 3 weitere Arbeitsplätze in anderen Branchen schafft.
Wettbewerbsfähigkeit Europas in Gefahr
In einer zunehmend digitalen und vernetzten Welt werden traditionelle Geschäftsmodelle in vielen Bereichen durch digitale ergänzt oder ersetzt. Das bedeutet, dass der jetzige Wohlstand nur dann gehalten bzw. gesteigert werden kann, wenn es gelingt, diese neuen Möglichkeiten zu nutzen und erfolgreich einzusetzen, sonst sinkt die Wettbewerbsfähigkeit und damit der Wohlstand.
Für Europa besteht daher die Herausforderung darin, den vorher dargestellten Rückstand gegenüber den anderen Wirtschaftsregionen aufzuholen, gezielt in neue Technologien zu investieren, eigene Stärken bewusst in die digitale Welt umzusetzen (z.B. den Vorsprung der deutschen Automobilindustrie für die neue digitale Verkehrsmodelle zu nutzen) und eine attraktive Wirtschaftsregion für Investitionen, Start-Ups und global agierende Unternehmen zu werden.
Digitale Bildung entscheidend
Das geht nicht ohne Menschen. Denn Digitalisierung verändert vor allem die Art und Weise, wie wir arbeiten. Es gibt kaum noch Jobs, die ohne digitale Kompetenzen ausgeführt werden können. Egal ob der Schweißer, der komplexe Schweißroboter bedient, oder der Handwerker, der unterstützt durch Augmented-Reality-Brillen Reparaturen an Maschinen durchführt.
Digitale Bildung ist daher von höchster Bedeutung. Menschen mit guter digitaler Bildung haben nicht nur bessere Chancen auf einen Job, sondern insbesondere höhere Chancen auf einen IT-intensiven Job, der typischerweise auch besser bezahlt ist, wie das Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche 2021 in einer Studie bestätigt. Und das wiederum stärkt den Wohlstand.
Um also ausreichend digitale Arbeitsplätze in Europa zu schaffen bzw. schaffen zu können, müssen vor allem zwei Dinge gelingen: Menschen durch den gezielten Ausbau digitaler Ausbildung und attraktiver, moderner Studienrichtungen wie Data Scientist oder AI Engineer digital zu qualifizieren und ein attraktives Ökosystem bestehend aus Universitäten, Leitbetrieben und Start-Ups sowie geeigneten Rahmenbedingungen für Venture Capital zu schaffen, das ein Gegengewicht zu den Silicon Valleys dieser Welt darstellt, um Top-Talente und Unternehmer:innen zu behalten bzw. anzuziehen.
Auch für Österreich im Speziellen bestehen hier Chancen. Derzeit verfügen laut DESI nur 63% der Österreicher:innen über „grundlegende digitale Kompetenzen“ und von diesen nur etwa die Hälfte über „weitergehende digitale Kompetenzen“. Zudem bietet sich die Konzentration auf einen bestimmten Schwerpunkt wie beispielsweise digitaler Tourismus an.
Europäische Werte – vom Hemmschuh zur Zukunftschance?
In Sachen Digitalisierung liegt Europa gegenüber den USA oder China aktuell zurück. Und dafür gibt es Gründe: In den USA die faktische Dominanz der Unternehmen gegenüber Gesellschaft und Politik sowie die Dominanz des Staates in China. Das hat in der ersten Phase der Digitalisierung dazu geführt, dass schneller reagiert werden konnte, da weniger Rücksicht aus Partikularinteressen, ethische und gesellschaftspolitische Fragen wie beim Datenrecht und weniger Interessenausgleich erforderlich war.
Wurde das früher in Europa als Schwäche ausgelegt, könnte sich gerade diese „IT-politische, demokratische Sturheit“ als Stärke der Zukunft für Europa entpuppen. Gerade in einer Zeit, in der Souveränität wieder ein ernst zu nehmender Wert geworden ist. Durch die zunehmende internationale Vernetzung im Rahmen der Digitalisierung der letzten Jahre hat auch die gegenseitige Abhängigkeit deutlich zugenommen. Zudem haben uns die COVID-Pandemie und der Ukraine/Russland-Konflikt gerade in Europa vor Augen geführt, wie wesentlich diese digitale Souveränität für unser Zusammenleben ist.
Kann es also einem demokratischen Europa, das auf anderen Werten und Prinzipien aufbaut als die beiden anderen genannten Staaten gelingen, trotzdem in der digitalen Welt erfolgreich zu sein?
Europa braucht einen eigenen digitalen Weg
Um nicht in den nächsten Jahren komplett aufs digitale Abstellgleis zu gelangen, dürfen wir nicht den USA oder China hinterherhecheln und ihre Ansätze blind übernehmen, Digitalisierung also nicht unternehmenszentriert wie in den USA und nicht staatszentriert wie in China verstehen. Wir brauchen einen eigenen, europäischen – und wenn man so will – dritten digitalen Weg. Einen, der Mensch und Technologie gemeinsam denkt, Mensch-zentriert, humanistisch.
Ganz neu ist das natürlich nicht. In einem Strategieprozess unter der Leitung der Donau-Uni Krems gemeinsam mit Ministerien, Wissenschaftler:innen, Vordenker:innen und Vertreter:innen aus der Wirtschaft und Zivilgesellschaft wurde dieser Ansatz bereits im Jahr 2018 hinzulande formuliert.
Die zentrale Frage ist dabei, wie es gelingen kann, die Anforderungen und Möglichkeiten der Digitalisierung wie beispielsweise den Umgang mit den Unmengen an Daten, die für KI benötigt werden, mit den europäischen Werten, insbesondere Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschen- und Minderheitenrechte in Einklang zu bringen.
Mit humanzentriertem Ansatz zum digitalen Erfolg
In welche Richtung die Lösung für ein digital starkes Europa gehen kann, zeigen bereits einige konkrete und sehr vielversprechende Ansätze und Projekte wie der Digital Service Act, „Digital Identity for all Europeans“ (soll europaweit allen Bürgern ermöglichen, ihre eigene Identität gesichert nachzuweisen) oder GAIA-X (sichere und datenschutzfreundliche virtuelle Cloud-Computing-Infrastruktur für Europa).
All diesen Projekten liegen die gleichen Grundprinzipien zu Grund, die Europa seit jeher auszeichnen, wenn es um Digitalisierung geht: Selbstbestimmung über Daten, die Verwendung von Daten nur im dafür vorgesehenen und vereinbarten Sinne, Stichwort DSGVO, sichere Vernetzung und anonymisierter Datenaustausch und uneingeschränkter Schutz der menschlichen Grundrechte der Nutzer wie Meinungsfreiheit oder die Rechte des Kindes.
Natürlich sind dies nur erste Schritte eines humanzentrierten Ansatzes der Digitalisierung. Wenn die EU und ihre Länder diesen Weg konsequent weiter fortschreiten, kann dies zu einem echten Alleinstellungsmerkmal Europas in der digitalen Welt werden. Gerade nach den ersten rasanten Jahren der Digitalisierung, quasi dem digitalen Goldgräberrausch, ist zudem zu erwarten, dass Firmen und Länder wieder nachhaltige Konzepte suchen, mit denen eine gute Ausgewogenheit zwischen technisch Machbarem und moralisch, ethisch Wünschenswertem hergestellt wird.
Wenn wir dieses Konzept in den nächsten Jahren klug und gezielt umsetzen, kann Europa als Vorreiter dastehen. Dies verbunden zudem mit der Hoffnung, dass die Menschen zumindest in freien Nationen außerhalb Europas, diesen Weg ebenfalls einschlagen wollen und unterstützen, da sie damit ihre Interessen und ihre Werte ebenfalls umgesetzt sehen. Ich jedenfalls bin überzeugt, dass dieser Weg erfolgreich sein wird, dass es uns damit gelingen kann, international unsere Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen, unseren Wohlstand abzusichern und unsere Souveränität zu bewahren.